Von Ghazaleh Gouya-Lechner, Joana Enes & Maria Teresa Ferretti
Verröffentlicht am Mittwoch, 28 Juni 2023 in der Wiener Zeitung.
Die Alzheimer-Krankheit erlebt heute, was die Multiple Sklerose mit den Interferonen erlebt hat: das Aufkommen von Medikamenten, die die Krankheit für Millionen von Patienten behandelbar machen. So befinden sich Substanzen im Anmarsch, die das Beta-Amyloid, das die bekannten Plaques im Gehirn verursacht und damit die Erkrankung ins Rollen bringt, effektiv beseitigen können. Sie verlangsamen den kognitiven Verfall und verbessern damit den Lebensalltag der Patienten.
Morbus Alzheimer ist die häufigste Ursache für Demenz bei älteren Menschen und betrifft weltweit über 36 Millionen Menschen. In Österreich sind es rund 70.000 Erkrankte. Zwei Drittel davon sind Frauen.
Bis Juni 2021 bestand die pharmakologische Behandlung aus vier Medikamenten: Drei Cholinesterasehemmer (Donepezil, Galantamin und Rivastigmin), die für leichte bis mittelschwere Fälle geeignet sind, und Memantin, ein sogenannter partielle NMDA-R-Antagonist, der als einziges Medikament für mittelschwere bis schwere Fälle geeignet ist.
Positive Studienergebnisse
All diese Medikamente wirken symptomatisch und verlangsamen die Geschwindigkeit des kognitiven Abbaus geringfügig, ohne die zugrunde liegende Pathologie zu bekämpfen. Psychiatrische Symptome wie Depressionen treten bei Alzheimer-Patienten in rund 45 Prozent der Fälle auf, ihre Behandlung kann jedoch komplex sein. Die vorhandenen antipsychotischen Arzneien können nur bei schweren Symptomen und unter sorgfältiger Überwachung “off-label” verabreicht werden.
Die großen Forschungsdurchbrüche der letzten 15 Jahre, allen voran die Einführung von bildgebenden Verfahren und Biomarkern, haben das Verständnis der Krankheit und ihres natürlichen Verlaufs dramatisch verbessert. Laut Joana Enes, Neurowissenschafterin beim Biotechnologie-Start-up Gouya Insights, gibt Hinweise darauf, dass die Anhäufung von Beta-Amyloid im Gehirn das früheste pathologische Ereignis bei Alzheimer ist und dass es notwendig ist, aber nicht ausreichend ist, um die Krankheit auszulösen. Erst mit der Ausbreitung der Tau-Pathologie von den Schläfenlappen auf den Rest des Gehirns treten die ersten Symptome auf.
Diese Erkenntnis hat zu intensiven Programmen zur Entwicklung neuer Medikamente geführt, und seit letztem Jahr sind neue Medikamente – vorerst auf dem amerikanischen Markt – erhältlich. Ferretti zufolge haben nun Versuche, die Amyloid-Pathologie mit monoklonalen Antikörpern zu bekämpfen, die zunächst erfolglos waren, nun positive Ergebnisse gezeigt, auch dank der Lehren, die aus früheren, gescheiterten klinischen Versuchen gezogen wurden.
Anti-Amyloid-Antikörper der zweiten Generation beseitigen Amyloid effektiv aus dem Gehirn und zeigen einige Hinweise auf kognitive Wirkungen, indem sie den kognitiven Verfall verlangsamen und die Aktivitäten des täglichen Lebens verbessern.
Ära der Präzisionsmedizin
Man hofft auf eine krankheitsverbessernde Wirkung, doch um das zu beweisen, sind längere Studien und “Real-World”-Daten erforderlich. Zwei dieser Antikörper wurden inzwischen von der US-Arzneimittelbehörde FDA im Rahmen eines beschleunigten Zulassungsverfahrens zugelassen (Aducanumab und Lecanemab). Daten zu einem dritten Medikament (Donanemab) werden diesen Sommer erwartet. Erste Ergebnisse deuten dem Entwickler zufolge darauf hin, dass alle primären und sekundären klinischen Endpunkte erfolgreich erreicht wurden.
Bei allen Antikörpern dieser Klasse besteht das Risiko einer Nebenwirkung namens Aria (Amyloid related imaging abnormalities), die in einem kleinen Prozentsatz der Fälle symptomatisch und schwerwiegend sein kann und durch regelmäßige MRT-Untersuchungen überwacht werden muss. Somit ist die Nutzen-Risiko-Abwägung der entscheidende Punkt, an dem die Europäische Arzneimittelbehörde EMA über die Zulassung dieser Medikamente entscheiden wird.
Die neue Generation von Anti-Amyloid-Medikamenten läutet die Ära der Präzisionsmedizin für Alzheimer ein, da sie nicht nur auf der Grundlage der klinischen Diagnose, sondern auch bei Vorliegen eines Biomarkers für Hirnamyloidose verabreicht werden.
Heuer wurde auch ein symptomatisches, atypisches Antipsychotikum zur Behandlung von Unruhezuständen im Zusammenhang mit Alzheimer-Demenz zugelassen (Brexpiprazol). Dies ist das erste von der FDA speziell für diese Indikation zugelassene Medikament. Symptome wie Aggression oder Unruhe werden mit einem schnelleren Fortschreiten der Krankheit und der Unterbringung in einem betreuten Wohnheim in Verbindung gebracht, sodass eine solche Behandlungsoption sowohl den Betroffenen als auch ihren Betreuern erheblich hilft. Es bestehen Bedenken hinsichtlich des mit dem Medikament verbundenen Sterblichkeitsrisikos, und bei der Verschreibung müssen Nutzen und Risiko abgewogen werden.
Reichhaltige Pipeline
Die Pipeline zur Behandlung von Alzheimer ist reichhaltig: Derzeit werden mehr als 140 verschiedene Therapien getestet – davon 36 in Phase 2 und 87 in Phase 3. Die laufenden klinischen Studien konzentrieren sich nicht nur auf Amyloid, sondern auf eine Vielzahl pathologischer Aspekte, darunter Tau-Hyperphosphorylierung und Ausbreitung sowie Entzündung und Gefäßpathologie.
Zwar gibt es noch kein Heilmittel, doch ist es sehr wahrscheinlich, dass in den nächsten Jahren nach und nach immer mehr und vielfältigere pharmakologische Wirkstoffe auf den Markt kommen werden, die die Krankheit für Millionen Menschen behandelbar machen können.
Über die Autorinnen :
Ghazaleh Gouya-Lechner ist Fachärztin für Innere Medizin, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für pharmazeutische Medizin und Gründerin des Biotechnologie-Start-ups Gouya Insights.
Maria Teresa Ferretti ist Neurowissenschafterin und Neuroimmunologin und Expertin für Alzheimer und Gendermedizin.
Joana Enes ist medizinische Autorin und bringt insgesamt mehr als 15 Jahre Forschungserfahrung in wichtigen therapeutischen Bereichen wie Neurologie, Kardiologie und Onkologie mit.